Die Kultur des estnischen Volkes ist im Laufe der Jahrhunderte auch durch den Wechsel von dänischer, deutscher, schwedischer und russischer Herrschaft geprägt worden. Einen besonderen Einfluß hatten die Deutschen, die 700 Jahre an der Ostküste der Ostsee ansässig waren. Der berühmteste dieser “Deutschbalten” genannten Volksgruppe ist zweifellos der auf vielen Gebieten der Naturwissenschaften versierte Karl Ernst von Baer (1792–1876) gewesen. Zur Aufbewahrung und Erforschung seines wissenschaftlichen Erbes gründete das heute der Estnischen Landwirtschaftlichen Universität angeschlossene Institut für Zoologie und Botanik 1976, im Hause Veski tn. 4, dem letzten Wohnort des Karl Ernst von Baer, ein Museum, das seinen Namen trägt. Ferner findet die Anerkennung des Gelehrten darin ihren Ausdruck, daß der seit 1992 gültige 2-Kronen-Schein das Bild des Karl Ernst von Baer trägt. Dies zeigt, wie hoch auch heute der Einfluß nichtestnischer Kulturen auf die Entwicklung Estlands eingeschätzt wird.
Der lange und erfolgreiche Weg des Karl Ernst von Baer, geboren am 28. Februar 1792 auf dem Gut Piibe (Piep), Kreis Järvamaa (Jerwen), führte ihn schon in seinen jungen Jahren in die Fremde, wo er den größten Teil seines Lebens verbracht hat. Nach dem Abschluß des Studiums (1814) an der medizinischen Fakultät der Universität Tartu (Dorpat) vervollkommnete Baer seine Kenntnisse in Wien, Würzburg und Berlin und wechselte 1817 an die Universität Königsberg. Als strebsamer Wissenschaftler mit äußerst vielseitigen Interessen fand er dort nicht gleich das richtige Arbeitsfeld. Er war gleichzeitig als Organisator der Wissenschaft tätig und widmete sich verschiedenen Wissenschaftsgebieten wie Zoologie, Botanik, vergleichende Anatomie, physische Anthropologie und physische Geographie der Nordpolargebiete. Erst 1825 wandte sich Baer ganz der Erforschung der Entwicklung des Embryos der Säugetiere zu. 1827 entdeckte er die Eizelle des Säugetieres und begründete damit die moderne Embryologie. Ähnliche spätere Untersuchungen führten leider nicht mehr so schnell zu einem Erfolge. Das Zusammentreffen vieler Umstände führte 1834 zum endgültigen Umzug nach St. Petersburg. Dort erwartete ihn die Arbeit an der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg, zuerst als Zoologe, später als Physiologe. Baers St. Petersburger Zeit (1834–67) weist sehr vielseitige wissenschaftliche und wissenschaftsorganisatorische Tätigkeiten auf. Zur Leidenschaft des Zoologen Baer wurde in St. Petersburg die Erforschung der physischen Geographie des Russischen Imperiums. Baer organisierte mehrere Expeditionen und nahm auch selbst an zahlreichen Forschungsreisen teil. Er war der Initiator für die Gründung der Russischen Geographischen Gesellschaft, Begründer der Geokryologie und Entdecker des Gesetzes von der Asymetrie der Flußufer. Er begründete in Rußland die physische Anthropologie und Ethnographie und wirkte im Bereich der Wissenschaftspolitik sowie des Bibliothekwesens.
Während Baers St. Petersburger Zeit verbrachte er seine Sommerferien regelmäßig auf dem Heimatgut Piibe. Darüber hinaus nahmen auch die Kontakte zu seiner Heimat und besonders zu den Wissenschaftlern der Universität Tartu zu. Obwohl er selbst nicht an der hiesigen Universität lehrte, beteiligte er sich an der naturwissenschaftlichen Erforschung der Ostseeprovinzen Rußlands. 1838–42 befaßte sich Baer auf mehreren Reisen an die Nordküste des Gouvernements Estland mit den Spuren der Eiszeit. In den Jahren 1851–52 untersuchte Baer als erster Wissenschaftler systematisch das Fischereiwesen des Peipussees und an der Ostküste der Ostsee. Auf seine Initiative wurde das erste Naturschutzgesetz Rußands verabschiedet (1859), das den Fischfang in diesen Gewässern regelte. Durch die 1853 gegründete Naturfoschergesellschaft zu Tartu beteiligte sich Baer indirekt an der naturwissenschaftlichen Erforschung der Gouvernements Est- und Livland. Häufig hatte er auch Kontakte mit estnischen Gelehrten z.B. Friedrich Reinhold Kreutzwald, dem Verfasser des estnischen Epos Kalevipoeg.
1867 erfolgte Baers Umzug nach Tartu. Für die Universität Tartu, die in diesen Jahren ihre Blütezeit erlebte, bedeutete dies eine weitere Verstärkung ihres wissenschaftlichen Rufes. Baer aktivierte das wissenschaftliche Leben und setzte nun auch hier die in St. Petersburg begonnene Tradition der Veranstaltung von wissenschaftlichen Diskussionen fort. Haupthema dieser Diskussionen war die Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion. Ebenfalls gingen die Arbeiten an der Evolutionstheorie und an der Geschichte der Geographie weiter. Karl Ernst von Baer starb am 28. November 1876 und wurde in Tartu auf dem alten Johannis-Friedhof beigesetzt.
Baer hinterließ über 400 wissenschaftliche Arbeiten und ein umfangreiches schriftliches Erbe, das für die Erforschung seines Einflusses auf die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts ein gutes Ausgangsmaterial darstellt.
In Tartu bewohnte Karl Ernst von Baer das Erdgeschoß eines in der Mitte der 1860er Jahre erbauten Wohnhauses (Veski tn. 4). Am 29. September 1976 wurde in diesen Räumen eine ständige Ausstellung eröffnet, die Baers Leben und Wirken veranschaulicht. Im Museum ist es möglich, sich mit dem wissenschaftlichen Erbe des “nordischen Humboldt” bekannt zu machen, seinen riesigen Schreibtisch, seine Pflanzen- und Vogelsammlungen zu betrachten sowie seine vom Bildhauer August Weizenberg für die Naturforschergesellschaft geschaffene Büste zu bewundern. Wie bekannt, war Baer lange Zeit Vorsitzender der Naturforschergesellschaft in Tartu. Im Museum wird auch die Erforschung von Baers Tätigkeit fortgesetzt und es werden wissenschaftliche Publikationen über Baer und über die allgemeine Geschichte der estländischen Wissenschaften veröffentlicht, um die Stellung des estnischen Kulturraumes im Kontext mit dem Kulturraum der Welt deutlich zu machen. Das Museum gibte eine eigene wissenschaftliche Reihe Folia Baeriana heraus. (Sie erscheint seit 1975 in unregelmäßigen Abständen; bisher Bd. 1–7.) Zusammen mit der Estnischen Naturforschergesellschaft wird hier alljährlich am 28. Februar mit einer wissenschaftlichen Veranstaltung des Geburtstages des Karl Ernst von Baer gedacht.